Haltung

Geschichten aus dem Kaninchendarm, Teil 1: Der Magen
Von der Karotte zum Köttel: Langohrs Verdauung
Die Verdauung der Kaninchen ist einzigartig. Sie zu verstehen, hilft dem Züchter die Fütterung zu optimieren und bei Unpässlichkeiten richtig zu reagieren.
 
Kaninchen sind Pflanzenfresser mit einer Vorliebe für blattreiches, saftiges Grünzeug. Als kleine Tiere mit einem raschen Stoffwechsel suchen sie gezielt nach Futter mit einem hohen Nährwert. Doch ohne Fasern in der Nahrung würde ihr Darm stillstehen; dieser weniger beliebte Bestandteil ist in der Kaninchennahrung unverzichtbarer. Auf der anderen Seite sind Fasern Ballast für ein Tier, das vielen als willkommene Beute gilt und oft das sprichwörtliche Hasenpanier, möglichst leichtfüssig, ergreifen muss. Wie die Langohren dieses Dilemma gelöst haben, und andere interessanten Details aus den Tiefen des Darmes, sollen anhand der Reise eines Stücklein Rüeblis durch den Verdauungstrakt gezeigt werden.
 
Die Reise beginnt

Kaninchen können zwar nicht sehen, was sich direkt vor ihrem Maul befindet, doch der Geruchssinn und die feinfühligen Lippen mit den umgebenden Tasthaare helfen, auch die zartesten Blättchen oder - in unserem Fall - das Rüebli zu finden. Mit den meisselartigen Schneidezähnen werden Stücke abgebissen und mit den Backenzähnen gut zerkaut. Vier Paar Speicheldrüsen sondern Speichel mit verschiedenen Enzymen ab, die bereits in der Maulhöhle mit der Verdauung der Nahrung beginnen. So wird die kleine Menge Stärke, die im Rüeblistück vorhanden ist, zu Zucker abgebaut.

 Am Anfang war die Karotte. Die Verdauung zu verstehen hilft,
Probleme bei der Fütterung zu vermeiden.

Der zerkaute und mit Speichel befeuchtete Bissen wird geschluckt, rutscht die Speiseröhre hinunter und landet im Magen. Dies ist ein dünnwandiger Sack, gegen die Speiseröhre mit einem Schliessmuskel, dem Magenmund, abgeschlossen. Dieser Verschluss funktioniert beim Kaninchen nur in eine Richtung, die Nahrung kann geschluckt werden, aber Erbrechen oder auch blosses Rülpsen ist unmöglich.
 
Der Magen des Kaninchens ist nie leer. Sogar nach 24stündigem Fasten ist er noch zur Hälfte voll mit einem Gemisch aus Flüssigkeit, Futter und Haaren. Ab und zu findet man Haarbälle. Früher glaubte man, dass die bei der Fellpflege geschluckten Haare zu solchen Ansammlungen führen. Heute ist man der Meinung, dass die beim Putzen geschluckten Haare in einem gut funktionierendem Verdauungstrakt keine Probleme machen. Erst wenn die Verdauung verlangsamt ist, beispielsweise bei mangelnder Körperbewegung des Tieres, treten Haarbälle auf. Ab und zu ein Stündchen Freilauf macht den Tieren Spass und wirkt Wunder für die Verdauung!
 
Nestlinge setzen auf Milchöl

Im Magen herrscht ein saures Klima: bei dem pH-Wert (Säurewert) von 1 bis 2 werden Mikroorganismen abgetötet und die Nahrung so sterilisiert. Unser Karottenstück, das natürlich unterdessen längst zu Brei geworden ist, braucht ungefähr drei bis sechs Stunden, um den Magen zu durchqueren. Hier wird das Eiweiss mit Hilfe von Pepsin und Salzsäure bereits etwas aufgeschlossen und auf die Verdauung im Darm vorbereitet. Fette und Kohlehydrate hingegen passieren den Magen praktisch unverändert.

 Einzigartig in der Tierwelt ist das natürliche Antibiotikum Milchöl, das Nestlinge 
aus der Muttermilch produzieren.

Der Magen ist nicht von Beginn weg so sauer: Nestlinge haben in ihrem Magen einen nur schwach sauren pH-Wert von 5 bis 6,5. (Wasser besitzt einen pH-Wert von 7 und ist damit neutral.) Die Muttermilch wird im Magen der Kleinen zu einer halbfesten Dickmilch. In kleinsten Portionen wird die Dickmilch über einen Zeitraum von fast 24 Stunden in den Dünndarm abgegeben. Durch diese langsame Magenentleerung leiden die Kleinen, die ja nur einmal pro Tag gesäugt werden, keinen Hunger.

 Regelmässiger Freilauf macht Spass und ist ein gutes Mittel,
um Verdauungsproblemen vorzubeugen.

Da dieser pH-Wert bei weitem nicht ausreicht, um den Mageninhalt steril zu halten, hat sich Natur einen speziellen und in der Tierwelt einzigartigen Trick einfallen lassen: Verdauungsenzyme aus dem Magen der Kleinen bilden mit Substanzen aus der Muttermilch das Milchöl. Dieses wirkt als natürliches Antibiotikum und hält den Verdauungstrakt der Nestlinge in den ersten zwei Wochen völlig bakterienfrei. Daraus ist auch eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der mutterlosen Aufzucht ersichtlich: Ohne dieses Milchöl, das nur mit Kaninchenmilch gebildet wird, sind die Nestlinge den Mikroorganismen schutzlos ausgeliefert. Selbst wenn die Aufzucht gelingt, sind die Tiere ein Leben lang anfälliger auf Verdauungsstörungen.

 
Text und Bilder Ursula Glauser
Kaninchenverdauung, 1. Teil